Donnerstag, 11. März 2010

Der Reisende

Der Reisende

Er war ein Reisender. Die ganze Welt war sein Zuhause. Er bereiste fast jedes Land, jeden Kontinent, jeden Ort. Für ihn war das Reisen der Inhalt seines Lebens, sein Sinn des Lebens. Seine Wissenshunger und sein Interesse war unermesslich. Jede Kultur, jede Attraktion, jedes Kunstwerk war für ihn nie vorstellbar, bis er es endlich selbst gesehen hatte. Ja, er glaubte nur an das Gesehene, er glaubte nur seinen Augen. Jedes Jahr waren vier, fünf Reisen angesagt. Zwischen diesen Reisen ging er auf den Bau, arbeitete fast durch, denn er hatte immer ein Ziel vor Augen, die nächste Reise. Er verdiente gut, so konnte er sich all die Reisen finanzieren. Er hatte zwar keinerlei Luxus, doch den brauchte er gar nicht. „Die Welt hat nur einen Luxus zu bieten: Normalität und Alltag der Leute. Alles andere ist nicht echt, ist nicht real. Das ist der wahre Luxus einer Reise, diese zwei Sachen zu sehen, Normalität und den Alltag der Menschen“, war seine Erklärung auf die Frage von Luxus. Auf seinen Reisen hat er sich einen eigenen Zyklus angeeignet. Am Anfang werden die Sehenswürdigkeiten besucht, ausnahmslos alle. Denn er war wissbegierig. Danach ging es meistens aufs Land, wo kein Tourismus herrschte, denn das war für ihn das Herzstück jeder Reise. Er freundete sich mit den Menschen an, schlief bei ihnen, half ihnen bei der Arbeit, aß mit ihnen. Denn seiner Meinung nach war das die einzige Möglichkeit, eine andere Kultur nicht nur kennenzulernen, sondern aus zu verstehen. „Erst wenn man den Alltag einer fremden Kultur durchlebt hat, versteht man auch ihre Ideologie“, war einer seiner Redewendungen. Ja, er kannte so ziemlich jede Kultur, denn er hatte auch den Alltag dieser Lebensweisen durchlebt. Man muss ihm ein bisschen Respekt einräumen, denn dieser Mann, der auch schon langsam in die Jahre kam, hatte mehr von der Welt gesehen und erlebt, als jeder andere. Auf allen Kontinenten war er mindestens fünf Mal, immer irgendwo anders, ob es nun in China bei den Reisbauern war, oder in Afrika bei einem Stamm, oder in Kanada auf einer Farm, dieser Mensch konnte viele, sehr viele Geschichten erzählen. Für ihn hatte das Reisen den Status einer Normalität, denn ohne das Reisen würde auch er nicht mehr wirklich leben. Für ihn war Reisen Leben. Er empfand das Umherwandern als eine Erlösung vom Alltag, es löste Zufriedenheit und Glück in ihm aus. Jedes Mal wenn er in einen Flieger einstieg, oder auf Bord eines Schiffes ging, da überkam ihn ein Gefühl, dass für ihn lebenswichtig geworden ist. Es war das Gefühl, Neues zu entdecken, Neues zu erforschen, Neues zu erleben. Es löste in ihm so viele Glückshormone aus, dass es für sein Herz und für seine Seele lebenswichtig wurde. „Wenn ich nicht mehr die Welt bereisen kann, dann wird mein Leben ein Ende finden, dann werde ich die allerletzte Reise antreten, dass ist sicher!“, waren seine Worte.

Er war ein Reisender, der ohne Reisen nicht mehr existieren konnte. Er konnte nicht sesshaft werden, denn sein Zuhause war die Welt. Es war sein Ding, seine Ideologie, sein Leben. Auch wenn er älter wurde, seine Reisen trat er immer noch an, zwar hatte er sich ein bisschen einschränken müssen, doch das hielt ihn nicht davon ab, in irgendwelche Länder zu reisen und eine neue Kultur kennenzulernen. Er war ein Freigeist.

Er wachte auf. Verschlafen rieb er sich die Augen und sah sich um. Er war in seinem Zimmer, in seiner Zelle. Er fand sich wieder in der Geschlossenen, in der er schon sein ganzes Leben verbracht hatte. Lächelnd legte er sich wieder hin und floh in seine Traumwelt, in der er ein Reisender war, ein Freigeist, welcher sein Zuhause die Welt nannte. MK

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